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Gratwanderung zur Klimaneutralität

20. November 2023
Hanspeter Kunz
Hanspeter Kunz

Die Menschheit will bis 2050 klimaneutral werden. Damit ist sonnenklar, dass alle fossilen Brennstoffe im Boden bleiben müssen. Das heisst, dass wir die Bereiche, in denen wir heute noch fossile Energie verbrauchen, total umbauen müssen: Transport, Stromerzeugung, Gebäudetechnik und Industrie. Aber wie?

Auf die Frage, wie dieser Umbau stattfinden soll, gibt es keine einfache Antwort, aber einen bunten Strauss von Ideen, deren Spektrum von technologischen Massnahmen bis zur fundamentalen Umgestaltung unseres ganzen Lebensstils reicht. Die gute und die schlechte Nachricht lauten: Es braucht etwas von allem.

Die Menschheit brauchte im Jahr 2022 rund 166 667 Terawattstunden Primärenergie, Tendenz steigend. Davon stammten rund drei Viertel aus fossilen Quellen. Es ist weder möglich, diese gigantische Energiemenge klimaneutral herzustellen, noch die gewaltige Menge an CO₂ aus der Atmosphäre wieder zu entfernen. Stromspeicherung und Transport über weite Strecken sind teuer und verlustreich.

Gratwanderung

Technologien zur Entfernung von CO₂ aus der Atmosphäre sind nicht ausgereift und enorm energieintensiv. Auch die langfristige Speicherung von CO₂ ist problematisch. Schon alleine deshalb wird es nicht möglich sein, alleine mit technologischen Massnahmen klimaneutral zu werden.

Hier wird klar, wie viel «Glück» wir mit den fossilen Treibstoffen hatten. Sie sind einfach zu fördern, zu transportieren und zu verwenden. Die Industrialisierung wäre ohne billige Kohle nicht möglich gewesen. Unseren Wohlstand haben wir den fossilen Energieträgern zu verdanken. Nun müssen wir Alternativen finden, wenn wir unsere Lebensgrundlage nicht zerstören wollen.

Lebensstil anpassen

Um von den fossilen Treibstoffen wegzukommen, müssen wir unseren Energieverbrauch um etwa einen Drittel reduzieren, wie Ulrike Herrmann in ihrem 2022 erschienenen Buch «Das Ende des Kapitalismus» darlegt. Wir werden nicht umhinkommen, unseren verschwenderischen Lebensstil anzupassen.

In Bezug auf unsere Konsumgüter brauchen wir langlebigere Produkte, die einfach reparierbar und rezyklierbar sind (Kreislaufwirtschaft). Das gemeinsame Verwenden von Produkten muss normal werden (Sharing Economy), das gilt insbesondere für das Auto (Carsharing). Grundsätzlich soll weniger produziert werden. Was wir brauchen, ist keine Profit-, sondern eine Bedarfswirtschaft. Die Produktion muss sich am Bedarf orientieren, nicht umgekehrt, wodurch die Produktion gedrosselt werden kann. Güter sollen möglichst lokal hergestellt und konsumiert werden. Industrielle Prozesse müssen effizienter und auf nachhaltige Methoden umgestellt werden.

Wege verkürzen und vermeiden

Der Flugverkehr muss entschieden eingeschränkt werden, denn synthetische Treibstoffe aus erneuerbaren Energien stehen auf absehbare Zeit nicht in der benötigten Menge zur Verfügung. Zudem sind auch diese nicht klimaneutral, da beim Flugverkehr zwei Drittel der Klimawirkung durch sogenannte Nicht-CO₂-Emissionen wie Wasserdampf, Stickoxide, Schwefeloxide und Russ verursacht werden.

Auch der private motorisierte Strassenverkehr ist ein Modell ohne grosse Zukunft. Die Strategie ist klar: Wege müssen verkürzt (15-Minuten-Stadt, Co-Working-Spaces usw.) oder ganz vermieden werden (Verkehrsverdunstung, siehe letztes umverkehRen). Die verbleibende Verkehrsleistung muss zu Fuss, mit dem Velo oder per ÖV erbracht werden. Ins Auto zu steigen, wird zur Ausnahme, zudem werden es konsequenterweise Autos sein, die wir uns teilen. Der ÖV und das Transportgewerbe werden mit Elektromotoren unterwegs sein, ebenso die Carsharing-Flotte. Für mehr wird unsere Stromproduktion nicht reichen.

Rebound-Effekt

An Ideen mangelt es nicht. Allerdings merken wir seit 30 Jahren, dass die eingesetzten Instrumente und Massnahmen zum Klimaschutz wirkungslos verpuffen. Das liegt oft am Rebound-Effekt: Einsparungen durch Effizienzsteigerungen werden durch intensivere Nutzung wieder aufgehoben. Wir müssen Gesamtsysteme betrachten und unsere Massnahmen mit entsprechenden strukturellen Anpassungen begleiten.

Aber auch wenn wir Gesamtsysteme betrachten, wird es uns kaum gelingen, klimaneutral zu werden, solange wir in einem Wirtschaftssystem gefangen sind, das auf Profit und somit Wachstum basiert, denn dieses ist letztlich der Grund für unseren wachsenden Ressourcenverbrauch.

Es ist darum unumgänglich, an ein paar Schrauben des Wirtschaftssystems zu drehen. Das kann über staatliche Rationierung funktionieren. Was es sicher braucht, sind Verbote. Es ergibt keinen Sinn, Produkte herzustellen, und dann von den Konsument:innen zu erwarten, dass sie diese nicht kaufen. Vorschriften, Richtlinien und Verbote sind auch sozial gerechter und haben damit eine höhere gesellschaftliche Akzeptanz als eine Verteuerung via Lenkungsabgaben oder Steuern.

Wohlstand neu denken

Müssen wir nun wählen zwischen Klimaschutz und Wohlstand? Nicht, wenn wir unter Wohlstand ein erfülltes Leben verstehen. Glück hat zum Glück nichts mit Wachstum zu tun. Die Menschen wünschen sich im Allgemeinen ein stabiles Einkommen, eine bezahlbare Wohnung und ein lebenswertes Umfeld. Glück hängt nicht von Wachstum und Konsum ab. Wir könnten also auch viel weniger arbeiten und hätten dann mehr Zeit für uns und für andere.

Klar ist, dass Klimaschutz nur eine Chance hat, wenn allen jederzeit klar ist, wovon sie leben sollen und wie es für sie weitergeht. Darum braucht es konkrete Visionen und Massnahmen auf allen Ebenen. Wenn wir damit Erfolg haben, dann retten wir nicht nur das Klima und die Erde unserer Kinder, sondern ermöglichen allen ein erfüllteres Leben.



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